Bild: Der neue Ärztliche Direktor und Vorstandsvorsitzende des UKM, Prof. Alex. W. Friedrich, und der Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, Dr. Hans-Albert Gehle, haben heute ein Corona-Update zu verschiedenen Aspekten der Pandemie gegeben. © Foto (UKM)

Münster (ukm/äkwl) – Durch die Virusvariante Omikron schnellen erstmalig in der Pandemie auch in Westfalen-Lippe und im Münsterland die Inzidenzen auf täglich neue Rekordhöhen. Die WHO rechnet damit, dass sich bis März die Hälfte aller Europäer mit dem SARS-CoV-2-Virus angesteckt haben wird. Die hohen Infektionszahlen werden auch in den Kliniken zu massiven Personalausfällen führen. Bei gleichzeitig mehr Patienten wird so eine Überlastung der Kliniken wahrscheinlicher. Der Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, Dr. Hans-Albert Gehle, und der neue Ärztliche Direktor und Vorstandsvorsitzende des UKM (Universitätsklinikum Münster), Univ.-Prof. Dr. med. Alex W. Friedrich, haben sich während einer gemeinsamen Pressekonferenz zu den aktuellen Entwicklungen durch das exponentielle Infektionsgeschehen geäußert. Im Folgenden haben wir die Hauptaussagen zusammengestellt. [Video mit Univ.-Prof. Dr. med. Alex W. Friedrich, Ärztliche Direktor und Vorstandsvorsitzende des UKM] und [Video mit Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, Dr. Hans-Albert Gehle]

Einschätzung der generellen Corona-Lage

Gehle: „Seit Beginn der Pandemie haben wir als Ärzte in Westfalen-Lippe den Pandemie-Verlauf in Wellen mit eher fünf als drei Jahren vorhergesagt. In den Wellen scheint das Virus unsere Gesellschaft und ihre gesundheitspolitischen Entscheidungen mit seinen Varianten immer wieder vor sich herzutreiben. Erkenntnisse und Überzeugungen ändern sich so rasch wie in keinen anderen Zeiten, die Entscheidungsfindung kommt nicht hinterher. Die Pandemie-Lage kann sich in kurzer Zeit ändern – und erfordert dann womöglich immer wieder neue andere Maßnahmen. Wichtig für die Bevölkerung ist zu wissen, dass wir uns auch in den nächsten Monaten immer wieder an neue Lagen anpassen müssen. Dieses Wissen offensiv nach vorne getragen, würde meines Erachtens der Bevölkerung mehr Sicherheit geben, statt immer neue Versprechungen. Zur Situation jetzt: Die WHO geht davon aus, dass sich in den nächsten fünf bis sieben Wochen die Hälfte aller Europäer mit Omikron angesteckt haben wird. Das sind etwa 220 Millionen Menschen. Die meisten davon werden glücklicherweise nicht schwer krank werden, aber es wird trotzdem eine unglaubliche Belastung unserer Gesundheitssysteme und auch der Gesellschaft insgesamt. Und je mehr Menschen sich infizieren, desto größer die Gefahr, dass neue Varianten entstehen.“

Friedrich: „Meine Prognose ist, dass wir für den Rest des respiratorischen Winters, also etwa bis Mai, vor allem Omikron-Infektionen sehen werden. Diese Variante führt zwar weniger häufig zu schweren Erkrankungen. Aber weil es besser übertragbar ist, kommen die seltenen schweren Erkrankungen dann geballt vor. Dadurch könnte das Gesundheitssystem für einige Wochen massiv unter Druck geraten. Insgesamt gehe ich davon aus, dass wir nach der zu erwartenden Sommerruhe im kommenden Herbst abermals eine Zunahme der Infektionen sehen werden – möglicherweise dann auch mit einer Rückkehr von Delta oder einer neuen Variante.“

Prognose zur weiteren Entwicklung in den Kliniken:

Gehle: „Da selbst die Booster-Impfung nicht vor einer – meist asymptomatischen – Infektionen mit Omikron schützt, sind die Kliniken von zwei Seiten bedroht: Zum einen, wenn eigenes Personal in großer Zahl Isolation oder Quarantäne gehen muss, zum anderen, wenn insbesondere auf den peripheren Stationen vermehrt symptomatisch Kranke Corona-Patienten ankommen. Glücklicherweise scheint das individuelle Krankheitsrisiko unter Omikron geringer zu sein als unter Delta. Die Notwendigkeit von Krankenhausaufnahmen durch
Omikron ist weniger wahrscheinlich als bei Delta, es wird deutlich weniger Intensivbehandlungen, aber eine höhere Belastung von Normalstationen geben. Die Liegezeiten unter Omikron betragen dabei im Schnitt drei, vier Tage weniger als bei Delta-Patienten.“

Friedrich: „Momentan fühlt es sich an wie die Ruhe vor dem Sturm. Ich gehe davon aus, dass sich die Intensivstationen im Februar und März vor allem mit Ungeimpften füllen werden. Auch die Normalstationen werden, anders als bisher, deutlich mehr Aufnahmen sehen, auch mit Geimpften, deren letzte Impfung länger als fünf Monate her ist. Ein Großteil der Patienten wird mit einer anderen Diagnose eingewiesen werden, bei denen Omikron zufällig noch dazu nachgewiesen wird, ohne dass sie spezifische Symptome haben. Diese Patienten müssen selbstverständlich trotzdem isoliert gepflegt werden, um Ausbrüche im Krankenhaus zu verhindern. Zum anderen kann Omikron die Grunderkrankung entgleisen lassen, sodass viele dieser Patienten innerhalb weniger Wochen medizinische Behandlung benötigen.“

Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung angesichts hoher Personalausfälle:

Gehle: „Die Krankenhausgesellschaft NRW sieht das Klinikpersonal zurecht in einem zweijährigen „Pandemie-Dauerstress“ und berichtet aktuell von zahlreichen Krankmeldungen und Quarantänefällen in den Häusern. Das hat natürlich nicht nur Auswirkungen auf die Intensivstationen, sondern auch auf die Normalversorgung. Überall fehlen Fachkräfte oder werden zwischen einzelnen Stationen verschoben. Um eine Lücke zu schließen, wird oft woanders notgedrungen eine andere Lücke aufgemacht. Unsere Krankenhäuser werden personell und organisatorisch weiter am Limit arbeiten müssen. Und in den Praxen der niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen sieht es mit deren und der Belastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht besser aus, schließlich muss neben dem Impfengeschehen auch die Normalversorgung gewährleistet bleiben. Auch hier kommt es auf jede Kraft an. Wichtig wird sein, auch mit der finanziellen Belastung Kliniken und Praxen nicht allein zu lassen.“

Friedrich: „Es könnte ab Februar und März sehr schwierig werden, die gesamte Versorgung aufrechtzuerhalten. Neben der Zunahme von COVID-19-Patienten werden sich immer mehr Mitarbeitende im privaten Umfeld infizieren. Mit diesen Szenarien rechnen wir aber als UKM und haben Notfallpläne dazu, welche Eingriffe wir beispielsweise verschieben können. Wir haben in Deutschland und NRW im EU-Vergleich viele Krankenhausbetten, aber auch bei uns kann die Versorgung an ihre Grenzen kommen. Trotzdem denke ich, dass wir sehr gute Voraussetzungen und bisher ein sehr robustes Gesundheitssystem hatten. Das müssen wir erhalten.“

Wann ist eine vierte Impfung sinnvoll? Wie kann die weitere Impfstrategie aussehen?

Gehle: „Auch eine vierte Impfung schützt nach den wenigen bislang vorliegenden Daten nicht vollständig vor einer Infektion, aber die Impfung schützt natürlich vor schweren Verläufen. Da die sogenannten ‚neutralisierenden Antikörper‘ mit der Zeit absinken, können sich insbesondere diejenigen infizieren, deren Impfung und gegebenenfalls Booster schon längere Zeit zurückliegt. Das sind zum Beispiel Menschen, die in Kliniken arbeiten und relativ früh geimpft und geboostert wurden. Leider scheint aber die vierte Impfung nicht zu einem wesentlichen Anstieg der neutralisieren Antikörper zu führen. Ob die vierte Impfung die andere Säule des Immunschutzes, die sogenannte T-Zell-Immunität stärkt, ist noch unklar. Möglicherweise wird die Situation anders sein, wenn die vierte Impfung mit einem neuen, Omikron-spezifischen mRNA Impfstoff durchgeführt wird, der ja bald kommen soll – die Hoffnung ist, dass eine solche Impfung auch zu einem deutlichen Anstieg von neutralisierenden Antikörpern führt.“

Friedrich: „Eine vierte Impfung mit den vorhandenen Impfstoffen kann da sinnvoll sein, wo der Booster schon länger als drei Monate her ist. Erste Daten aus Israel zeigen jedoch, dass die erneute Antikörperreaktion bei Omikron keinen zusätzlichen Schutz bietet. Besser wäre eine vierte Impfung im März/April mit einem Impfstoff, der dann schon an Delta und Omikron angepasst ist. Am effizientesten ist wahrscheinlich eine Grundimmunisierung, wie wir sie kennen, und zusätzlich noch ein Impfstoff-Booster, der über die Nase gegeben wird. Zu solchen Impfstoffen laufen die ersten Zulassungsstudien. Auch den sogenannten ‚Totimpfstoff‘, der eigentlich ein proteinbasierter Impfstoff ist und kurz vor der Freigabe steht, halte ich für sehr geeignet.“