Bild: Prof. Robert Nitsch von der Universität Münster fungierte bei der neuen Schlaganfall-Studie als Seniorautor (Foto: Wattendorff)

Forschungsteam entschlüsselt unbekannte Mechanismen im Gehirn

Mainz/Münster (umm/vw) – Eine Gruppe von Forschenden der Universitätsmedizin Mainz, der Universität zu Köln und der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hat einen völlig neuen Ansatz zur Behandlung des Schlaganfalls entdeckt: Das Team konnte nachweisen, dass ein spezifischer Signalweg der Lysophosphatsäure (LPA) – das ist ein bioaktives Lipid im Gehirn – die Erregbarkeit von Nervenzellen nach einem Schlaganfall reguliert und so die Schwere der Beeinträchtigung bei den Betroffenen beeinflusst. Gesteuert wird dieser LPA-Signalweg durch das Enzym Autotaxin (ATX). Im Tiermodell zeigte sich, dass durch eine Hemmung von ATX auch noch Stunden nach dem Schlaganfall die Erregbarkeit von Netzwerken im Gehirn reduziert werden konnte. Dies führte dazu, dass die Folgen des Schlaganfalls weniger gravierend waren. Die Ergebnisse der Untersuchungen wurden jetzt in der renommierten Fachzeitschrift „Science Translational Medicine“ veröffentlicht.

Bei einem durch einen Gefäßverschluss ausgelösten (ischämischen) Schlaganfall kommt es zu einer unzureichenden Blutversorgung und damit Sauerstoff- und Nährstoffmangel des Gehirns. In der Folge werden große Mengen von Botenstoffen, sogenannte Neurotransmitter, im Gehirn freigesetzt. Insbesondere die übermäßige Ausschüttung des Neurotransmitters Glutamat verursacht eine Reizüberflutung der Hirnzellen. Diese kann zu einer Funktionsstörung von Nervenzellen und zu ihrem Absterben führen. Als weitere Konsequenz geht Hirngewebe dauerhaft verloren, was wiederum bleibende Behinderungen verursachen kann.

Gegenwärtig zielen Schlaganfallbehandlungen darauf ab, funktionell beeinträchtigtes, aber noch lebensfähiges Gewebe zu retten. Dies geschieht, indem die Durchblutungsstörung so früh wie möglich medikamentös oder durch eine Katheterbehandlung behoben wird. Therapeutische Ansätze, die in die Signalübertragung des Gehirns eingreifen, um nach einem Schlaganfall das Hirngewebe soweit möglich am Leben zu erhalten, sind bislang nicht möglich.

Eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern um Prof. Johannes Vogt (Köln), Prof. Frauke Zipp (Mainz) und Prof. Robert Nitsch (Münster) hat jetzt gezeigt, dass die Steuerung der Erregbarkeit von Nervenzellen durch die Lysophosphatsäure eine wesentliche Bedeutung für den Verlauf des Schlaganfalls hat: Erhöhte synaptische Lipidsignale verstärken die durch Glutamat ausgelöste Reizüberflutung. Hierbei spielt das Molekül Autotaxin eine zentrale Rolle. Die Forschenden konnten im Tiermodell nach einem experimentellen Schlaganfall einen langanhaltenden Anstieg der ATX-Konzentrationen und der die Erregung stimulierenden LPA im Gehirn nachweisen. Prof. Vogt erklärt: „Wir haben über Genmutation und pharmakologische Hemmung von ATX auch noch Stunden nach einem experimentellen Schlaganfall zeigen können, dass sich die über LPA gesteuerte Erregbarkeit des Gewebes hemmen lässt und sich so der Verlauf des Schlaganfalls deutlich verbessert.“ Die Mainzer Neurologin Prof. Zipp verbindet mit den Befunden eine wichtige klinische Perspektive: „Da bei den Betroffenen sowohl die ATX- als auch die LPA-Konzentration im Liquor, also in der Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit, erhöht ist, ergeben sich neue Therapiemöglichkeiten, die auch noch nach dem eigentlichen Schlaganfall greifen könnten.“ Prof. Nitsch sieht einen bedeutsamen translationalen Schritt für eine neue Medikamentenentwicklung: „Tatsächlich zeigen die Daten, dass Patienten mit einem gestörten synaptischen LPA-Signalweg von einem Schlaganfall stärker betroffen sind. Das ist ein starker Hinweis auf einen möglichen Therapieerfolg durch ATX-Hemmer, die wir derzeit gemeinsam mit dem Hans-Knöll-Institut in Jena entwickeln.“

Die neuen Erkenntnisse zur Übererregbarkeit neuronaler Netzwerke und einer neuen Möglichkeit ihrer therapeutischen Korrektur könnten zukünftig nicht nur für den Schlaganfall relevant sein, sondern auch für andere neurologische und psychiatrische Erkrankungen. Der Schlaganfall ist weltweit die häufigste Ursache für Behinderungen und die zweithäufigste Todesursache. In Deutschland erleiden jährlich rund 270.000 Menschen einen Schlaganfall. In etwa 80 Prozent handelt es sich um eine Ischämie, bei der es zur Verstopfung einer Arterie im Gehirn kommt, die eine Durchblutungsstörung verursacht. Hingegen tritt bei den hämorrhagischen Schlaganfällen, die den Rest der Fälle ausmachen, durch einen Einriss in einer Gefäßwand eine Hirnblutung auf.. [Link zur Studie]