Bild: Univ.-Prof. Dr. med. Dr. theol. Gereon Heuft entwickelte Anfang der 90er-Jahre im Rahmen einer Studie der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) das Konzept der Trauma-Reaktivierung und forscht seitdem an der Verarbeitung von Kriegs- und Gewalterfahrungen und den Auswirkungen auf den menschlichen Körper und die Psyche.

Münster (ukm/maz) – Seit mehr als drei Jahrzehnten beschäftigt sich Prof. Gereon Heuft, Direktor der Sektion für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am UKM (Universitätsklinikum Münster), mit traumatischen Erfahrungen von Überlebenden des Zweiten Weltkrieges. Seit der ersten Veröffentlichung 1993 sind Medizinerinnen und Mediziner sensibilisiert, dass Patientinnen und Patienten nach Jahrzehnten des Verdrängens auf einem OP-Tisch liegend zum Beispiel in eine ähnliche Hilflosigkeit zurückversetzt werden können, wie sie sie im Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Nicht nur durch solche Erfahrungen, sondern auch durch die aktuelle Lage in der Ukraine kann eine Trauma-Reaktivierung ausgelöst werden – insbesondere, weil Betroffene damals selbst Kinder waren und zum Teil Assoziationen mit Ländernamen wie Polen und Russland haben.

Lieber Herr Prof. Heuft, die Bilder über den Krieg gegen die Ukraine machen viele von uns betroffen. In Gesprächen mit Überlebenden des Zweiten Weltkrieges wird jedoch deutlich, dass ihnen diese Situation besonders zu schaffen macht.

Was bewirken die aktuellen Bilder aus der Krisenregion bei ihnen?
Heuft: Es gibt ja die letzten Jahrzehnte immer schon weltweit kriegerische Konflikte, die auch in den Medien abgebildet werden. Die Besonderheit jetzt ist, dass der Krieg in Europa stattfindet, mehr oder weniger vor unserer Haustür, und nicht wenige der Überlebenden des Zweiten Weltkrieges mit den jetzt häufig genannten Ländern wie Polen und eben auch Russland ganz vielfältige Assoziationen haben. Dazu kommt die unmittelbare Bedrohungserfahrung bis hin zu diesen Andeutungen, es könnte noch einmal zu einem globalen Krieg kommen – das alles lässt mehr Wunden aufreißen, als wenn es ein Krieg in Afrika wäre, und die eigens erlebten, bedrückenden Erfahrungen lassen sich weniger gut verdrängen.

Spielt zum jetzigen Zeitpunkt möglicherweise auch das Alter eine Rolle, da Überlebende des Zweiten Weltkrieges damals selbst Kinder waren und nun mit Bildern von flüchtenden Frauen und Kindern konfrontiert werden?
Heuft: Das stimmt, das ist ein ganz zentraler Punkt. Wir hatten das im Jahr 2015 schon einmal, als es viele Spielfilme anlässlich des Weltkriegsendes vor 70 Jahren gab. Die Geschichten wurden oft anhand von Familien erzählt und das war für Überlebende schon sehr bedrückend. Viele konnten sich das nicht anschauen, da sie sich in ihre eigene Situation zurückversetzt gefühlt haben. Nur sind es jetzt mit dem Ukraine-Krieg reale Bilder, die sie an ihre eigene Kindheit erinnern.

Melden sich dazu aktuell bereits Betroffene oder Angehörige bei Ihnen?
Heuft: Nein, dafür sind die aktuellen Geschehnisse auch noch zu neu. Viele Kriegsüberlebende versuchen ja – das wissen wir aus unseren langjährigen Untersuchungen –, sich weiter zusammenzureißen. Wir dürfen nicht vergessen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Überlebensstrategie auf gut Deutsch „Halt die Klappe und sei froh, dass du überlebt hast!“ hieß, anschließend mit viel Disziplin der Wiederaufbau gelang und dann Jahre des Wohlstands folgten, in denen es unpassend wirkte, auf sein eigenes Leiden aufmerksam zu machen. Und ein Großteil der Betroffenen hat bis heute an diesem Muster festgehalten. Die derzeit viel diskutierten „Hamsterkäufe“ weisen zum Beispiel wie in einem Brennglas auf die verborgene Angst vor einem bedrohlichen Mangel an existenzieller Sicherheit hin, den viele dieser Generation durchgemacht haben.

Wenn vor allem Bilder diese Erinnerungen wecken: Können Sie eine Empfehlung aussprechen, wie Kriegsüberlebende mit den Informationen zum Krieg umgehen sollten?
Heuft: Meine Empfehlung ist, nicht zu viele Nachrichten zu konsumieren. Dabei sind vor allem die Bilder das Eindrücklichste! Generell sollte man sich nur gezielt informieren, das reicht ein-, maximal zweimal täglich. Menschen, die selbst schon einen Krieg überlebt haben, würde ich raten, sich eher über das Zeitunglesen und Radiohören zu informieren, anstatt sich immer Bilder im Fernsehen oder Bilderstrecken im Internet zuzumuten.

Was kann ich als Angehöriger tun, wenn ich mir Sorgen um meine Eltern oder Großeltern mache? Oder wie verhält es sich mit Mitarbeitenden in der Altenpflege?
Heuft: Ich empfehle, dass Thema nicht zu forcieren, also keine Fragen dahingehend zu provozieren, aber auf Signale zu hören. Das heißt, wenn jemand den Ukraine-Krieg oder den selbst erlebten Krieg anspricht, sollte man vorsichtig nachfragen und dann erst einmal zuhören. Wenn jemand allerdings erkennbare Symptome entwickelt, zum Beispiel Albträume oder sichtbar verängstigt Sätze fallen wie „Jetzt fangen die Bomben wieder an zu fallen“, die damit eine Posttraumatische Belastungsstörung skizzieren, sollte das Gespräch mit dem Hausarzt gesucht und dann geprüft werden, ob fachliche Hilfe im Sinne einer Psychotherapie den Betroffenen helfen könnte.