Weniger Komplikationen bei Knochenbrüchen
Münster (mfm/lt) – Vier Augen sehen besser als zwei – und ein Team kann besser therapieren als eine einzelne Ärztin oder ein einzelner Arzt. Klar: Konferenzen und Zusammenschlüsse zur Erörterung von komplizierten Fällen sind in der Medizin längst Alltag, diese laufen aber vielfach noch in Präsenz und beschränken sich auf bestimmte Fachrichtungen. In der muskuloskelettalen Medizin soll nun das Projekt EXPERT der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster die interdisziplinären Strukturen etablieren – und auch nicht-universitären Krankenhäusern zur Verfügung stellen: Priv.-Doz. Dr. Steffen Roßlenbroich will mit seiner Arbeitsgruppe ein auch „online“ verfügbares Expertenforum für die Behandlung von Frakturen mit Weichteilschäden und postoperativen Komplikationen aufbauen, um auf diesem Wege interdisziplinäre Absprachen zu ermöglichen. EXPERT soll Risiken minimieren, schnellere Entscheidungswege ermöglichen und moderne Therapieformen ermöglichen. Am Ende könnten Erfahrungen stehen, die dann in die Regelversorgung übergehen – weshalb das Projekt vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) eine Förderung in außergewöhnlicher Höhe von rund 6,9 Millionen Euro erhält.
Von der Leiter gefallen, ausgerutscht, beim Sport verletzt – ein Knochenbruch ist schnell passiert. Fraktur ist aber nicht gleich Fraktur: „Je nach Art der Verletzung können die Behandlung und der Heilungsprozess verschieden kompliziert und unterschiedlich langwierig sein“, erläutert Roßlenbroich. Der Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie ist als Geschäftsführender Oberarzt an der münsterschen Uniklinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie tätig. Nicht jeder Bruch lasse sich für ein optimales Ergebnis konservativ – also ohne operativen Eingriff – behandeln, so der EXPERT-Teamleiter: „Vor allem, wenn die Haut als natürlicher Infektionsschutz bei dem Bruch verletzt wird und operiert werden muss, ist die Gefahr für eine Infektion deutlich höher“. Prof. Michael Raschke, Direktor der Klinik und ebenfalls bei EXPERT aktiv, ergänzt: „Nicht nur die Verletzung und deren Ausmaß, sondern auch Vorerkrankungen, zum Beispiel bei den Gefäßen, erschweren die Behandlung“.
Das Projekt will aufbauen, was in seinem ausgeschriebenen Titel vorkommt – die Abkürzung steht für „Extremitätenboards zur Prozessoptimierung, Evaluation, Risikominimierung und Therapieoptimierung bei Frakturen mit Weichteilschäden oder post-operativer Infektion der unteren Extremitäten im Traumanetzwerk“. Konkret heißt das: Patienten, die Frakturen mit Weichteilschaden erlitten haben, sollen weniger Komplikationen und schnellere sowie bessere Heilungschancen haben. Das Mittel zum Zweck: ein interdisziplinäres Expertenforum, das von ärztlichem Personal durch eine telemedizinische Verbindung abgerufen werden kann. Behandelnde Ärzte bekämen darüber schnell Zweitmeinungen und interdisziplinäre Therapieempfehlungen für ihre Patienten; auch bei räumlicher Distanz oder unterschiedlichen Zeitplänen könnten die Mediziner auf die universitäre und interdisziplinäre Expertise zugreifen. Kurz gesagt: Patienten mit komplexen Verletzungen und komplizierten Situationen soll EXPERT eine individuelle und interdisziplinäre Therapieempfehlung aus universitärer Spitzenmedizin anbieten, egal wo die Betroffenen sich befinden.
Weiteres Projektziel ist die Entlastung des Gesundheitssystems – sowohl durch optimierte Therapieentscheidungen als auch durch Beschleunigung der jeweiligen Behandlung. Dadurch sollen die Behandlungsdauer sowie die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen langfristig reduziert werden. Durch den Austausch verschiedener Fachdisziplinen kann die Quote von Patienten sinken, die eine Komplikation erleiden und erneut operiert werden müssen, so die Hoffnung der EXPERT-Arbeitsgruppe. Ebenso soll der Einsatz von Antibiotika – und damit auch das Auftreten von Resistenzen – reduziert werden.
Eingebunden in EXPERT werden 33 Krankenhäuser unterschiedlicher Versorgungsstufen in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bremen. Während die Versorgung von Schwerverletzten bereits durch die Initiative „TraumaNetzwerk“ der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie sichergestellt ist, die diese mit der individuell notwendigen Infrastruktur schnellstmöglich in die Klinik bringt, besteht ein vergleichbares System für Patienten mit komplizierten Knochenbrüchen oder Komplikationen bislang nicht. Dabei ist das Risiko einer wiederkehrenden Infektion nach einer Operation hoch – und der Bedarf an einer interdisziplinären Struktur, welche diese Patienten auffängt, ebenso. Roßlenbroich geht davon aus, dass nach dem Aufbau einer Koordinierungsstelle im Frühjahr 2023 die ersten Online-Konferenzen stattfinden werden. „Dieses Projekt könnte ein Meilenstein der Digitalisierung in der interdisziplinären Medizin darstellen. UKM und WWU wollen hierzu gemeinsam den wissenschaftlichen Nachweis erbringen“, blickt Prof. Raschke optimistisch nach vorn.
Der Gemeinsame Bundesausschuss hat es sich zum Ziel gemacht, neue Versorgungsformen und Forschungsprojekte zur Verbesserung der Patientenversorgung zu fördern, die bisher nicht durch die gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Dazu wurde der Innovationsfonds eingerichtet, der entsprechende Aktivitäten finanziell unterstützt und so zur qualitativen Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung in Deutschland beitragen soll.