Bild: Eine Audiometristin („Hörtesterin“) bei einer Testung im Projekt HörGeist. Das Bild zeigt den Einsatz einer Sonde für die Messung otoakustischer Emissionen, also von Schallaussendungen des Innenohrs (Foto: WWU/K. Neumann)

„Leuchtturm-Projekt“ könnte in weltweit erstes Hörscreening für geistig Behinderte münden

Münster (mfm/sw) – Menschen mit geistiger Behinderung leiden mindestens fünf- bis sechsmal häufiger an Hörstörungen als die übrige Bevölkerung. Daher begibt sich die Phoniatrie und Pädaudiologie der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster – wieder einmal – auf unerforschtes Terrain: Prof. Katrin Neumann und ihr Team widmen sich mit dem Projekt HörGeist unentdeckten oder unzureichend versorgte Hörstörungen in dieser Gruppe. Das Ziel: ein flächendeckendes Hörscreening für Menschen mit geistiger Behinderung. Das Vorhaben wird vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) mit 1,7 Millionen Euro gefördert. Derzeit ist die Arbeitsgruppe auf der Suche nach geeigneten Probanden – insgesamt 1.050 sollen es werden.

Ein „Leuchtturmprojekt“ nennt es Katrin Neumann – und meint damit den innovativen Ansatz sowie die möglichen Ergebnisse, die HörGeist mit sich bringen könnte: „Wenn unsere Studie erfolgreich läuft, könnten wir ein bundesweit flächendeckendes Hörscreening für diese ohnehin gesundheitlich benachteiligte Zielgruppe etablieren“, so die Fachärztin und Direktorin der münsterschen Uniklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, die schon das flächendeckende Neugeborenen-Hörscreening in Deutschland maßgeblich mit auf den Weg gebracht hat. Die ersten Schritte: ein regionales Hörscreening, gefolgt – wenn auffällig – von einer Hördiagnostik und Therapieeinleitung. Das damit befasste Studienteam setzt sich aus Fachleuten verschiedener Berufsrichtungen zusammen – unter anderem aus Medizin, Psychologie, Hörakustik, Pädagogik, Gesundheitsökonomie, Epidemiologie und Statistik.

Ein Jahr später ist ein zweites Screening vorgesehen, das auch den bisherigen Therapieerfolg überprüft. Prof. Neumann erklärt: „Bei HörGeist wollen wir die langfristige Machbarkeit und den Nutzen regelmäßiger Hörtests prüfen. Es geht darum, inwiefern wir dadurch tatsächlich die Hör- und Kommunikationsfähigkeit von Menschen mit geistiger Behinderung und ihre gesellschaftliche Teilhabe bessern können.“ Außerdem: Durch das G-BA-Projekt soll erstmals solide ermittelt werden, wie viele Menschen mit geistiger Behinderung tatsächlich von einer Hörstörung betroffen sind. Ob das von der Expertin für Stimm-, Sprach- und Hörgesundheit initiierte Projekt dann auch noch der Kosten-Nutzen-Analyse standhält, die das neue Vorgehen mit dem bisherigen vergleicht, ist in einem abschließenden Schritt zu prüfen.
Aus fördertechnischen Gründen setzt HörGeist zunächst im Rheinland an. G-BA-finanzierte Projekte dienen der Erprobung von Behandlungen im Hinblick auf ihren etwaigen Einsatz in der Regelversorgung und eine Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen, weshalb hier die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) Rheinland/Hamburg Projektpartnerin ist. Die Hörtestungen laufen in der Lebensumgebung der Teilnehmenden, also in Wohnheimen, Werkstätten, integrativen und Förderkindergärten sowie entsprechenden Schulen.

Um sich von Münster aus mit dem Rheinland bestmöglich zu vernetzen, greifen Neumann & Co. auch auf die Telemedizin zurück. Insbesondere für die komplizierteren Fälle ist dieses „Instrument“ eine Bereicherung – und läuft folgendermaßen ab: „Mittels eines gesicherten Video-Calls schalten wir uns zu den Testungen und können alle Hörbefunde ansehen, mit den Untersuchten sowie dem Screening-Mitarbeitenden vor Ort sprechen. Und: Wir können mit einem Video-Otoskop in die Ohren der Untersuchten schauen, um sie ärztlich zu beurteilen“, erläutert Philipp Mathmann, Projektarzt von HörGeist. „Wenn die ‚Screenenden‘ unterwegs sind, klingelt bei uns also ein paar Mal am Tag das Telefon und wir verbinden uns mit unseren Partnern in Aachen, Essen, Köln oder Düsseldorf, um gemeinsam die Diagnostik und die weiteren Behandlungsschritte zu besprechen“, so der Mediziner.

Allerdings: Corona erwies sich auch bei diesem Forschungsprojekt als Hemmschuh. „Zwischenzeitlich waren externe Personen in den Behinderten-Einrichtungen gar nicht erlaubt – wir konnten also noch nicht genügend Hörscreenings durchführen und die Personenzahl rekrutieren, die wir gerne hätten“, bedauert der Arzt. Die HörGeist-Verantwortlichen ladern daher alle Einrichtungen und Familien, die die Teilnahmekriterien der Studie erfüllen, ein, sich mit ihnen in Verbindung zu setzen (Tel. 0251-83-59814, E-Mail: HoerGeist@ukmuenster.de). Denn, so Corinna Gietmann, die Projektkoordinatorin: „Nur gemeinsam kann es uns gelingen, Hörstörungen bei Menschen mit geistiger Behinderung besser aufzudecken, zu diagnostizieren und zu behandeln“.

Informationen für Interessierte gibt es im Flyer zu HörGeist.