Bild: Prof. Dr. Ariane Hohoff, Direktorin der Poliklinik für Kieferorthopädie.

Münster (ukm/aw) – Ein vom Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegebenes Gutachten erweckte jüngst den Eindruck, dass viele kieferorthopädische Behandlungen nicht nachhaltig oder gar nicht erst notwendig seien. Ist Kieferorthopädie also nur reine Ästhetik? Eine Auffassung, die laut Prof. Ariane Hohoff, Direktorin der Poliklinik für Kieferorthopädie am UKM (Universitätsklinikum Münster), weder wissenschaftlich noch medizinisch-praktisch zu halten ist.

Frau Prof. Hohoff, bleibt durch das vom Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegebene Gutachten beim Patienten nicht einfach nur hängen, dass Kieferorthopädie in Form einer Korrektur des Gebisses durch Zahnspangen oft unnötig ist? Und ist das die richtige Sicht?
Nein, es ist absolut nicht die richtige Sicht und das steht vor allem so auch gar nicht in dem Gutachten! Das Gutachten hat einen Nutzen der kieferorthopädischen Behandlung bereits ganz klar bestätigt: Es wird festgestellt, dass Patientinnen und Patienten mit kieferorthopädischer Behandlung eine hohe orale Lebensqualität haben. Letztere beinhaltet zum Beispiel die Freiheit von Schmerzen und eine ungestörte Funktion (essen, sprechen).
Mit Blick auf die Themen Zahnverlust, Zahnlockerung, Karies und Parodontitis gibt das Gutachten, „keine abschließende Einschätzung [… ], ob und welche langfristigen Auswirkungen die angewendeten kieferorthopädischen Therapieregime auf die Mundgesundheit haben.“ Dass etwas „nicht einschätzbar“ ist, heißt aber nicht, dass eine Behandlung unnötig ist bzw. nicht wirkt. Die Forschung entwickelt sich weiter: Inzwischen gibt es zwei neuere relevante Untersuchungen, die nachweisen, dass es bei Zahn- und Kieferfehlstellungen ein höheres Risiko für Karies und Parodontalerkrankungen gibt. Die Kieferorthopädie kann dabei präventiv wirken, indem sie die Fehlstellungen behebt.

Sind Zahnspangen eine Modeerscheinung?
Eine Studie aus dem Jahr 2018 zeigt, dass in Deutschland etwa jedes vierte Kind bzw. jeder vierte Jugendliche zwischen drei und siebzehn Jahren in ständiger kieferorthopädischer Behandlung ist. Klinische Gebissanomalien gibt es aber bei weit über der Hälfte aller Kinder, hierbei sind auffällige Röntgenbefunde noch gar nicht mitgezählt. Die gesetzlichen Krankenversicherungen finanzieren nur die Behandlung mittlerer bis schwerer Befunde. Kiefer und Zähne sind aber ein wesentlicher Faktor auch für die psychosoziale Gesundheit. Es gibt eine weitere Studie aus dem Jahr 2013, die zeigt, dass Zähne in der Schule Mobbing-Faktor Nr. 1 sind – noch vor mangelnder körperlicher Stärke oder dem Gewicht. Und auch die Weltgesundheitsorganisation definiert ganz klar, dass das psychosoziale Wohlbefinden zur oralen und allgemeinen Gesundheit unzweifelhaft dazugehört. Dass durch Kieferorthopädie die orale Lebensqualität hoch ist, bestätigt ja auch das vom Bundesgesundheitsministerium in Auftrag gegebene Gutachten.

Die zahnmedizinische Vorsorge hat über viele Jahre erreicht, dass 81 Prozent der 12-Jährigen in Deutschland kariesfrei sind. Viele Menschen gehen zwei Mal im Jahr zum Zahnarzt und nehmen eine professionelle Zahnreinigung in Anspruch. Eltern leiten ihre Kinder zum Zähneputzen und Benutzen von Zahnseide an und achten darauf, ebenso wie auf die Stellung der Zähne und Kiefer.
Es gibt viele andere Bereiche der Medizin, in denen der Nutzen einer Behandlung nie in Frage gestellt wird. Kein Mensch würde behaupten, dass man glücklich hundert Jahre alt werden kann, wenn das eine Bein zehn Zentimeter kürzer ist als das andere. Jeder würde sofort über orthopädische Maßnahmen nachdenken. Diese Logik sollte man auch auf die Kieferorthopädie übertragen.

Was würden Sie Menschen entgegenhalten, die sagen, dass so ein paar schief stehende Zähne doch nicht die Gesundheit beeinträchtigen?
Man wird immer Menschen vorzeigen können, die mit Rauchen, Alkoholkonsum oder „schiefen Zähnen“ 100 Jahre alt geworden sind. Das heißt aber nicht, dass es kein Gesundheitsrisiko gibt. Schon alleine gekippt stehende Zähne können unter Umständen dazu führen, dass jemand anfängt, zu knirschen. Das wiederum kann muskuläre Verspannungen und Kopfschmerzen verursachen. Aber das ist auch nicht der Punkt: Es geht in der Kieferorthopädie um ganz andere Dinge als um nur „schief stehende Zähne“. Das sagt ja auch schon der Name der Disziplin, in dem es um „Kiefer“ und „Orthopädie“ geht. Es geht darum, dass wir Wachstumsschäden an den Kiefern und Gelenken verhindern können. Es geht darum, dass wir Lücken schließen, wo Zähne nicht angelegt sind, so dass Zahnersatz überflüssig wird. Es geht darum, dass wir im Kiefer „steckengebliebene“ Zähne in die Mundhöhle einstellen. Es geht darum, dass wir Frontzahnverletzungen verhindern. Wenn zum Beispiel Unter- und Oberkieferschneidezähne horizontal drei bis vier Millimeter zu weit voneinander entfernt sind – im Volksmund „Häschenzähne“ genannt – verdoppelt sich das Risiko, dass diese bei einem Sturz zu Schaden kommen. Und es geht darum, dass wir Patienten mit schweren Fehlbildungen helfen, ein annähernd normales Gesicht zu bekommen und atmen zu können. Das alles ist Kieferorthopädie!
Es wird geschätzt, dass allein Fehlstellungen weltweit über 235 Millionen Zahnverletzungen ausmacht, die ja auch einen volkswirtschaftlichen Schaden darstellen. Ganz zu schweigen von den medizinischen, funktionellen und psychosozialen Folgen, die der Einzelne trägt, wenn diese Zähne, mit denen er abbeißen, lächeln und sprechen muss dauerhaft beschädigt sind.

Wird es die Kieferorthopädie als zahnmedizinische Disziplin weiter geben?
Zweifellos, sie ist fest im Studium der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde verankert, denn es wird immer Menschen geben, die mit den beschriebenen Erkrankungen im Kiefer- und Gesichtsbereich geboren werden oder sie erwerben. Die Befunde sind ja da – sowohl bei den niedergelassenen Ärzten als auch hier an der Uniklinik. Wir behandeln hier übrigens unter anderem auch ganz normale „Fälle“, denn wir bilden ja auch Fachzahnärzte für Kieferorthopädie aus – und das natürlich nicht gleich an den schwierigsten Befunden. Ich sage immer zu meinen Studierenden: „Herzlich willkommen zum schönsten Fach der Welt.“ Denn in vielen Fällen handeln wir ja nicht erst, wenn etwas schon unumkehrbar „kaputt“ ist, wie zum Beispiel bei einer Karies oder nach einer Frontzahnverletzung, sondern wir begleiten unsere Patienten im besten Fall in einem frühen Stadium und können tatsächlich präventiv helfen.