Prosopagnosie: Kennen wir uns? Wenn ein Gesicht aussieht wie jedes andere

Prosopagnosie: Kennen wir uns? Wenn ein Gesicht aussieht wie jedes andere

Bild: Univ.-Prof. em. Dr. Ingo Kennerknecht beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Prosopagnosie, dem Unvermögen, eine Person am Gesicht allein wieder zu erkennen.

Am Donnerstag (30.09.) startet der Film „Lost in Face“ in den deutschen Kinos, ein mehrfach ausgezeichneter Dokumentarfilm des Filmemachers und Neurowissenschaftlers Valentin Riedl, der Carlotta porträtiert, die keine Gesichter erkennen kann. Sie leidet unter Prosopagnosie – Gesichtsblindheit, einer Wahrnehmungsstörung, die rund zwei Prozent der Bevölkerung betrifft. Im Cinema in Münster gibt es am Donnerstag um 19 Uhr zur Premiere ein Filmgespräch, an dem neben dem Regisseur und der Protagonistin auch Prof. Ingo Kennerknecht vom Institut für Humangenetik am UKM (Universitätsklinikum Münster) teilnimmt, der sich seit Jahrzehnten mit Prosopagnosie beschäftigt.

Herr Prof. Kennerknecht, in die Situation, jemanden nicht wiederzuerkennen, ist vermutlich jeder schon einmal gekommen. Wann spricht man nicht mehr von „normaler“ Vergesslichkeit, sondern einer Krankheit, von Prosopagnosie?

Ingo Kennerknecht: Es handelt es sich um eine noch relativ unbekannte Wahrnehmungsstörung und mit Vergessen hat das überhaupt nichts zu tun, sondern mit dem prinzipiellen Unvermögen, überhaupt ein Gesicht individuell zu erkennen. Betroffene haben Schwierigkeiten zu sagen, welches Gesicht bekannt oder unbekannt ist. Bei starker Ausprägung können selbst Gesichter von Familienangehörigen oder gar das eigene Gesicht nicht erkannt werden. Der Begriff „Gesichtsblindheit“ ist allerdings irreführend, werden doch Gesichter mit all ihrer Mimik und Attraktivität als solche erkannt, wenn auch nicht die Person dahinter.

Wie viele Menschen sind denn von Prosopagnosie betroffen?

Kennerknecht: Wir konnten am Institut für Humangenetik am UKM zusammen mit anderen Wissenschaftlern in einer seit 2001 betriebenen Studien zeigen, dass die angeborene Prosopagnosie mit einer weltweiten Prävalenz von zwei Prozent sehr häufig ist und praktisch immer familiär auftritt. Weil sich Betroffene dessen jedoch oft nicht bewusst sind, wird das Phänomen im Alltag nicht thematisiert und erklärt daher, warum es praktisch nicht bekannt ist.

Und wie wird die Erkrankung diagnostiziert?

Kennerknecht: Für die Diagnose können wir auf verhaltenspsychologische Tests, wie den Cambridge Face Memory Test (CMFT), sowie einen von uns entwickelten Fragebogen mit anschließendem Interview zurückgreifen. Jedoch sind die Übergänge „schlechter“ Gesichtserkenner zu Prosopagnostiker fließend, sodass nicht in jedem Fall eine sichere Zuordnung oder Diagnose möglich ist. Da aber alle Betroffenen über viele eindrucksvolle Anekdoten berichten, kann meist schon im Erstgespräch die Diagnose gestellt werden ohne aufwändige Gesichtserkennungstests.

Was sind das für Anekdoten? Vermutlich sind die Situationen weniger lustig für die Betroffenen…

Kennerknecht: Insbesondere unerwartete Begegnungen können peinlich sein. Der Schüler, der in der Fußgängerzone seinen Lehrer nicht grüßt, muss deshalb nicht renitent, sondern kann auch gesichtsblind sein. Meist werden Betroffene gerügt, weil ihnen unterstellt wird, dass sie sich nicht für andere Menschen interessieren oder sich ihre Gesichter nicht merken wollen und gar arrogant sind.

Prosopagnosie ist bisher nicht behandelbar, auch wenn es weltweit große Anstrengungen gibt, die zugrundeliegende Genetik abzuklären, die mit dem Auftreten und somit einer Diagnostik in Verbindung gebracht werden kann. Was geben Sie Betroffenen mit an die Hand?

Kennerknecht: Betroffene entwickeln von sich aus gute Kompensationsstrategien, mit denen sie sich Auffälligkeiten im Gesichtsbereich merken, wie zum Beispiel Hautunregelmäßigkeiten und Haarschnitt. Hilfreich sind auch Gangbild und Körperbau. Je unveränderlicher diese gewählten Merkmale sind, umso weniger fällt das Defizit auf. Bei sehr starker Ausprägung, wenn die Strategien an ihre Grenzen kommen, kann ein Fachgespräch mit einem Neurologen helfen – allerdings sind Experten rar. Es heilt nicht das Defizit, macht aber die Problematik klar. So kann es sehr nützlich sein, dass Kollegen oder Mitschüler informiert sind und wissen, dass scheinbar fehlendes Interesse oder vermeintliche Arroganz eben nicht die Ursache hat.

Der Film „Lost in Face“ wurde unter anderem von der BBC hoch gelobt. Was sagen Sie als Mediziner und wieso sollte man ihn gesehen haben?

Kennerknecht: Der Film zeigt eindrucksvoll, wie ein besonderer Mensch eine besondere Lösung für ein ungewöhnliches und doch recht häufig vorkommendes Defizit findet. Dabei wird sehr behutsam und für jeden verständlich die Thematik dargestellt, ohne, dass die „technische“ Seite der Gesichtsblindheit als solche erläutert werden muss. Der Film öffnet sicherlich dem einen oder anderen Zuschauer die Augen und wirbt für mehr Toleranz im Miteinander.

Weitere Informationen und Trailer: www.lostinface.film

Prosopagnosie: Leben mit Gesichtsblindheit

Prosopagnosie: Leben mit Gesichtsblindheit

Münster (ukm/aw) – Dr. Sabine Holicki (60) bekam erst kurz vor ihrem 30. Geburtstag eine unerwartete Erklärung dafür, warum sie sich Gesichter einfach nicht merken konnte – immer wieder hatte das auch Rückwirkungen auf ihre sozialen Beziehungen. „Ich hatte bis zu diesem Moment geglaubt, ich wäre im Umgang mit meinen Mitmenschen einfach nur nicht aufmerksam genug“, stellt die Kommunikationsexpertin rückblickend fest. Bei den Recherchen zu ihrer Doktorarbeit zum Thema „Bildverarbeitung im Gehirn“ stieß sie eher zufällig darauf, dass es sich um eine anerkannte Wahrnehmungsstörung und nicht bloß um Unaufmerksamkeit handeln könnte. „Ich bin fast an die Decke geschossen – ich bin nicht schuld, mein Gehirn kann es nur nicht anders“, so die schlagartige Erkenntnis.

Gesichtsblindheit, oder die sogenannten Prosopagnosie, haben neuesten Studien zufolge rund eine von 40 Personen. „Das sind zwei bis drei Prozent der Bevölkerung“, so Prof. Ingo Kennerknecht, vom Institut für Humangenetik am UKM (Universitätsklinikum Münster). In Studien hat er nachgewiesen, dass die Prosopagnosie unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann und fast immer genetisch vererbt wird. Auch in der Familie von Sabine Holicki ist das der Fall: ihr jüngerer Bruder ist ebenfalls betroffen. „Als wir uns als Geschäftsreisende auf dem Frankfurter Flughafen einmal zufällig auf der Rolltreppe begegnet sind, hat es bei uns beiden sehr lange gedauert, bis der Aha-Effekt eintrat. Ich kannte meinen Bruder einfach nicht im Anzug.“

Weil Holicki Gesichter nicht, wie andere, ganzheitlich speichern und schnell abrufen kann, versucht sie, ihre Kontakte möglichst mit deren persönlichen Eigenarten im Gedächtnis zu verknüpfen: Statur, Frisur, Kleidungsstil, Stimme, Gangart, Gestik oder auch auffällige Muttermale können das Erinnern zumindest unterstützen. „Schwierig wird es dagegen, wenn jemand seine Frisur oder die Haarfarbe verändert oder wir uns an einem unerwarteten Ort begegnen“, sagt Holicki. „Dadurch ist es schon zu so einigen Verwicklungen gekommen. Denn natürlich ist es für Bekannte oder Geschäftspartner irritierend, wenn jede Begegnung wie die erste ist.“

Die Prosopagnosie ist keine Erkrankung, sondern ein kognitives Störungsbild. „Am ehesten kann man das Phänomen vielleicht mit einer Wahrnehmungsstörung wie einer ausgeprägten Namensschwäche vergleichen“, sagt Kennerknecht. „Man findet sie häufiger mit ADHS oder eventuell einer Autismusspektrumstörung assoziiert. Ein Zusammenhang wird diskutiert, ist aber noch nicht verstanden. Gesichtsblindheit ist noch wenig erforscht. Heilbar ist sie nicht, es gibt jedoch effektive Kompensationsstrategien.“
Studien legen außerdem nahe, dass Prosopagnosie eventuell mit Hochbegabung korreliert: Zumindest ist Gesichtsblindheit unter Hochbegabten überdurchschnittlich häufig vertreten.

Mit den Jahren hat Holicki gelernt, mit der Gesichtsblindheit umzugehen. Sie braucht ungefähr zehn Treffen, um ein Gesicht „auswendig zu lernen“. Während Sabine Holickis Freunde natürlich über diese Besonderheit Bescheid wissen, ist es für die Beraterin und Trainerin insbesondere im Job schwieriger. „Gerade am Anfang rede ich meine Kunden nicht mit Namen an, um Verwechslungen auszuschließen. Auf gar keinen Fall weihe ich sie direkt in mein Problem ein – im Beruf schreckt das Menschen eher ab als dass es Vertrauen fördert.“

Die Wissenschaft versucht das Phänomen Prosopagnosie mit eingehenden Untersuchungen im MRT besser zu verstehen, kann aber keine Therapien anbieten, da die Ursache ja genetischer Natur ist. Die Sechzigjährige stört das nicht. „Ich bin privat und beruflich bisher gut durchs Leben gekommen. Nur weil ich einen Speicherdefekt irgendwo hinten links im Gehirn habe und bei mir die Prozesse eben anders ablaufen als bei anderen, heißt das nicht, dass ich defizitär bin.“

Factsheet Prosopagnosie

  • Hinweise auf Prosopagnosie finden sich bereits in der griechischen Antike. Das Defizit wurde erstmals 1947 vom deutschen Psychiater und Neurologen Joachim Bodamer anhand dreier Patienten mit Hirnverletzungen wissenschaftlich eingeführt. Dieser prägte auch das Kunstwort „Prosopagnosie“, das er aus den griechischen Wörtern für „Gesicht“ und „Nichterkennen“ ableitete.
  • Die erworbene Form nach Enzephalitis, Hirntrauma oder -infarkt ist aber sehr selten. Erst seit 1976 kennt man die angeborene (kongenitale) Form. Prof. Ingo Kennerknecht vom Institut für Humangenetik am UKM konnte in seinen zusammen mit anderen Wissenschaftlern seit 2001 betriebenen Studien zeigen, dass die angeborene Prosopagnosie mit einer weltweiten Prävalenz von 2 bis 3 Prozent sehr häufig ist und praktisch immer familiär auftritt.
    Kennerknecht, T. Grueter, B. Welling, S. Wentzek, J. Horst, S. Edwards, M. Grueter: First report of prevalence of non-syndromic hereditary prosopagnosia (HPA). (PDF) In: Am J Med Genet. Part A 140A. 2006, S. 1617–1622, doi:10.1002/ajmg.a.31343, PMID 16817175.
  • Mit funktionellen und bildgebenden Verfahren wie EEG (Elektroenzephalografie) und fMRT (funktionelle Magnetresonanztomographie) versucht man den neurologischen Hintergrund abzuklären. Zur Diagnostik sind diese Methoden bislang nicht geeignet. Verhaltenspsychologische Tests, wie der Cambridge Face Memory Test (CMFT), sind derzeit die diagnostische Methode der Wahl, erlauben aber nicht in jedem Fall die Diagnose.
  • Weltweit gibt es große Anstrengungen, die zugrundeliegende Genetik abzuklären – ohne bislang Gene gefunden zu haben, die mit dem Auftreten der Prosopagnosie in Verbindung gebracht werden können. Da die Prosopagnosie angeboren ist, gibt es derzeit keine ursächliche Therapie, wohl aber entwickeln Betroffene von sich aus gute Kompensationsstrategien. Weil sich Betroffene dessen oft nicht bewusst sind, wird das Phänomen im Alltag nicht thematisiert und erklärt daher, warum es praktisch nicht bekannt ist.