Sprachentwicklungsstörungen können flexibel behandelt werden

Sprachentwicklungsstörungen können flexibel behandelt werden

Bild: Online-Therapien bei Sprachentwicklungsstörungen haben sich im Rahmen der Studie als sehr wirksam herausgestellt.

Sprachentwicklungsstörungen: Jedes zehnte Kind betroffen

Fast zehn Prozent aller Kinder in Deutschland haben eine Sprachentwicklungsstörung bzw. -verzögerung. Die gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Folgen sind enorm, denn Sprachentwicklungsstörungen sind oft Vorläufer für Schwierigkeiten beim Lese-Rechtschreib-Erwerb. Die THESES-Studie der Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie am UKM hat sich seit 2020 mit der Wirksamkeit verschiedener Therapieansätze befasst. Gefördert wurde das Projekt von der Albert und Barbara von Metzler-Stiftung* und der Leopold-Klinge-Stiftung. Jetzt liegen die Ergebnisse der randomisiert-kontrollierten zweiarmigen Studie an insgesamt 354 Kindern vor.

Münster (ukm/aw) – Spricht mein Kind altersgemäß? Oder hat es Schwierigkeiten grammatikalisch korrekte Sätze zu bilden oder Wörter richtig auszusprechen? Das sind Fragen, die sich Eltern von kleinen Kindern stellen. Bis zu einem Alter von drei Jahren hat vieles, was (Vor-)Schulkinder vorübergehend sprachlich als Phänomen zeigen, nicht unbedingt Krankheitswert. „Es gibt sogenannte ‚Late-Talker‘, von denen ein Teil mit wachsendem Alter sprachliche Rückstände wieder aufholt“, sagt die Studienleiterin der THESES-Studie, Prof. Katrin Neumann, Direktorin der Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie am UKM (Universitätsklinikum Münster). „Wenn aber doch eine Sprachentwicklungsstörung diagnostiziert wird, ist es enorm wichtig, diese schnell und gezielt zu behandeln. Denn Sprachentwicklungsstörungen wirken sich lebenslang auf Bildungs-, Berufs- und Partnerschaftschancen aus.“ Neumann leitet vier vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) geförderte Projekte zu Sprachentwicklungs- und Hörstörungen und koordinierte die kürzlich veröffentlichten interdisziplinären S3-Leitlinien „Therapie von Sprachentwicklungsstörungen“.

Sprachentwicklungsstörungen (SES) stellen mit 57 Prozent die häufigste Diagnose dar, bei der eine sprachtherapeutische Behandlung angezeigt ist. Gleichzeitig wurden die Erfolge der verschiedenen Therapiesettings in ihrer Wirksamkeit bisher kaum überprüft. In der THESES-Studie wurden anhand der Datenanalyse von insgesamt 354 Kindern zum einen die Standardtherapie in Form einer ambulanten Einzeltherapie, die stationäre Intensivtherapie sowie die ambulante Kleingruppentherapie als Intensiv- und Wiederauffrischungstherapie untersucht. „Die Ergebnisse belegen die Wirksamkeit vor allem der ambulanten Kleingruppentherapie, die auch online stattfinden kann, aber auch die stationäre Therapie zeigt Vorteile“, schildert Neumann die Hauptergebnisse. „Im Nachhinein hat es sich als Glücksfall für die Studie herausgestellt, dass die Forschungsgruppe während der Corona-Pandemie spontan Online-Therapien mit ins Studiendesign mit aufnehmen mussten, die sich dann nicht als Notbehelf, sondern im Gegenteil als mit am wirksamsten herausgestellt haben“, freut sich Sigrun Stosius, Vorstand der Frankfurter Metzler-Stiftung*. Im Ergebnis seien Online-Therapien den Standardtherapien sogar überlegen, wahrscheinlich wegen des Einbezugs der Eltern zuhause und des hohen kommunikativen Anteils, folgern die Forschenden.

Mit den Ergebnissen aus der THESES-Studie plädiert Logopädiewissenschaftlerin und Studienkoordinatorin Dr. Denise Siemons-Lühring dafür, die Therapie-Landschaft bunter zu gestalten: „Aktuell muss schon bei Verordnung in der Arztpraxis das jeweilige Behandlungssetting festgelegt werden. Dies macht den flexiblen Einsatz verschiedener Therapiesettings unmöglich. Therapien in Präsenz fallen häufiger aus, wenn beispielsweise ein Geschwisterkind krank ist und die Eltern nicht zur Praxis kommen können. Ersatzweise die Therapie online durchzuführen, wäre Stand jetzt nicht möglich. Da müsste die Verordnungspraxis flexibler werden, vor allem sollte es keine Obergrenze für online durchgeführte Sprachtherapien geben.“

Einblick in die künftige Weiterentwicklung von Sprachtherapien gibt der Neuro- und Sprachwissenschaftler Dr. habil. Lars Meyer, Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften und zugleich Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Pädaudiologie am UKM. Seine Mitarbeit zielt darauf ab, neurowissenschaftliche Methoden, insbesondere bildgebende Verfahren, zur Steigerung der Effizienz von Sprachtherapie nutzbar zu machen, teils unter Zuhilfenahme von KI. Auch setzen die Forschenden inzwischen auf moderne Medien: Das Team um Prof. Katrin Neumann erforscht neue Projekte zur Therapie phonologischer Aussprachestörungen und setzt dabei Hör- und Bilderbücher ein. Das – zusammen mit dem Ansatz der Online-Therapien – wird Eltern und Kinder entlasten und bietet neue Möglichkeiten, dem häufigen Phänomen der Sprachentwicklungsstörung zu begegnen, bevor sich deren Folgen im weiteren Leben manifestieren.

Die im Text genannten Verantwortlichen der Studie stehen der interessierten Öffentlichkeit und Medienvertreterinnen und -vertretern am Freitag, 29. November, vormittags für Rückfragen und weitere Informationen zur Verfügung. Wenn Sie Interesse an einem persönlichen Gespräch bzw. einem Austausch per Telefon oder Videocall haben, kommen Sie gerne auf uns zu.
Neue Wege bei Sprachentwicklungsstörungen: WWU-Mediziner erforschen den Einsatz von Online-Therapien bei Kindern

Neue Wege bei Sprachentwicklungsstörungen: WWU-Mediziner erforschen den Einsatz von Online-Therapien bei Kindern

Bild: Am anderen Ende der Internet-Verbindung begleitet Logopädiewissenschaftlerin Denise Siemons-Lühring das Online-Sprachtraining (Foto: WWU/L. Jeremies)

Münster (mfm/lt) – Wer als Kind zur Sprachtherapie ging, wird sich an die Sitzungen erinnern: Allein im Raum mit der Behandlerin oder dem Behandler sitzend, wiederholten die Kleinen spielerisch Übungen zum Hören von Sprache und Sprechen. Oft wurde auch die Mundmotorik trainiert. Einzeltherapie-Sitzungen sind auch heute noch der Standard in der Sprachtherapie – doch muss das so bleiben? Das Team um Prof. Katrin Neumann von der Universität Münster erforscht die Wirksamkeit von Online-Therapien für Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen. Stellen Sie eine Alternative zum Einzeltherapie-Standard dar? Für ihr Projekt THEON erhält die Arbeitsgruppe vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) eine Förderung in Höhe von 1,3 Millionen Euro.

Corona, Corona, Corona … – nach zwei Jahren Ausnahmesituation wollen viele das Wort nicht mehr hören oder lesen. Allerdings lässt sich nicht übersehen, dass die Pandemie viele bestehende Probleme in den Fokus gerückt und Handlungsbedarf offengelegt hat. So auch in der Sprachtherapie: Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen konnten während der Lockdowns keine Präsenztherapie besuchen und sich durch die Kontaktbeschränkungen auch weniger mit anderen Kindern unterhalten. Damit wurde ihr Sprachfortschritt nicht mehr befördert und stagnierte vermutlich bei einigen. Wieso also nicht die Behandlung online weiterführen, in einer Zeit, in der doch so vieles ins Internet verlegt werden konnte?

Die gesetzlichen Krankenkassen erteilten während der Pandemie befristete Ausnahmegenehmigungen für die sprachtherapeutische Videobehandlung, die immer wieder um einige Monate verlängert wurden, zuletzt bis März 2022. Für eine dauerhafte Genehmigung fehlen jedoch in Deutschland Belege über die Wirksamkeit und Qualität von Videobehandlungen. Das Team um Prof. Katrin Neumann, Direktorin der münsterschen Uniklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, will Klarheit schaffen.

In einer deutschlandweiten Studie werden die Fortschritte zweier Gruppen von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen miteinander verglichen: Die Kinder der einen erhalten eine klassische Einzeltherapie einmal wöchentlich in Präsenz, die der anderen werden in einer engmaschigen Intervalltherapie in Kleingruppen behandelt. Letzteres bedeutet: Zwei bis drei Kinder werden mehrmals wöchentlich zu Online-Therapiesitzungen mit ihrer Logopädin zusammengeschaltet, pausieren einige Monate und absolvieren dann einen neuerlichen Therapieblock. „Manche Logopädinnen werden diese Ansätze vielleicht kritisch betrachten, viele öffnen sich ihnen aber auch“, meint Prof. Neumann. Heute tätige Sprachtherapeuten seien nach den altbekannten Standards ausgebildet worden, aber, so die Klinikdirektorin: „Gewohnheiten können sich ändern – und sie müssen es auch.“
Die Notwendigkeit eines Umdenkens sieht sie in der Sprachtherapie selbst begründet: Bei der gehe es darum, Sprach- und Sprechmuster im Gehirn nachhaltig zu verändern. Dies benötige eine große Anzahl von Wiederholungen in unterschiedlichen Kontexten und mit allmählich steigender sprachlicher Komplexität. Einzelne Therapieschritte, die aus einer Schärfung der Sprachwahrnehmung, der Entwicklung von Kompetenzen und der aktiven sprachlichen Umsetzung bestehen, könnten durch eine engmaschige Therapie wahrscheinlich beständiger aufgebaut werden als in einer extensiven Standardtherapie, weil die Lerninhalte in der nachfolgenden Behandlung noch gut abrufbar seien.

„Die wöchentliche Einzeltherapie steht diesbezüglich ohnehin in der Kritik“, so Neumann. Hinzu komme, dass viele Therapiestunden nicht stattfänden, sei es wegen terminlicher Engpässe oder Krankheit bei den Therapeuten oder Therapierten. „De facto gehen die Kinder also im Schnitt nur alle zehn bis vierzehn Tage in die Sprachtherapie“, konstatiert die Fachfrau für Stimm- und Sprachprobleme. Das sei einfach zu wenig und führe dazu, dass die Kinder oft über Jahre in der Therapie seien. „Deshalb untersuchen wir auch andere Formen und testen diese sowohl in Präsenz als auch im Online-Format.“

Die Hoffnung der Forscherinnen ist zudem, mit einem Online-Angebot eine neue Klientel zu erreichen – und das auch entkoppelt von einer globalen Pandemie. „Wir denken dabei an Familien, die nicht einmal in der Woche zur Therapeutin fahren können, an sozial Benachteiligte, für die die Fahrtkosten vielleicht einfach zu teuer sind“, erläutert Prof. Neumann. Auch im Ausland lebende Kinder und andere schwer erreichbare Zielgruppen könnten von einem Online-Angebot profitieren.

Die Förderung durch den G-BA ermöglicht den münsterschen Wissenschaftlerinnen jetzt eine vertiefte Erforschung des Themas und könnte die Weichen stellen für eine Implementierung in den Behandlungsalltag. Insgesamt stellt der G-BA, das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland, über seinen Innovationsfonds jährlich 200 Millionen Euro für Projekte zur Verfügung. Dieses Geld soll helfen, kontinuierlich bessere Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln, die dann in die Regelversorgung der gesetzlich Versicherten einfließen.